„Call Me By Your Name“ von André Aciman

von Willi Hetze

Lesedauer: ca. 7 Minuten

Wer noch nie verletzt wurde, liebt ohne Rücksicht auf sich selbst. Deshalb ist Elios erste Liebe im Roman „Call Me By Your Name“ so bedeutsam und erinnert den Leser an die eigenen Herznarben.

„Du hast ja keine Ahnung, wie wenig ich von dem weiß, worauf es wirklich ankommt.“

„Nämlich?“

War er wirklich so naiv? „Das weißt du doch. Gerade du müsstest es wissen.“

Schweigen.

„Warum sagst du mir das alles?“

„Weil ich möchte, dass du es weißt“, platzte ich heraus, „weil ich es niemandem sonst sagen kann.“ So, jetzt war es heraus. Würde er mich verstehen?

Aciman, André [2018]: Call Me By Your Name. Ruf mich bei deinem Namen. München: dtv. S. 86f.

Später in Italien

Der 17-jährige Elio Perlman lebt 1983 im Hause seiner Eltern, im italienischen Städtchen B. (vermutlich Bordighera). Er verbringt den Sommer mit Tennisspielen, Schwimmen, Ausgehen, Joggen, Musik transkribieren und Lesen. Sein Vater ist ein amerikanischer Professor für Altertumsforschung und lädt jedes Jahr einen vielversprechenden Doktoranden ein, sechs Wochen bei der Familie zu leben, um in der Abgeschiedenheit Manuskripte zu überarbeiten. Elio muss sein Zimmer für den Gast räumen, den 24-jährigen Oliver, der sich stets mit dem Wort „Später!“ verabschiedet.

„‚Später!‘ Das Wort, die Stimme, die Attitüde. Ich hatte noch nie erlebt, dass sich jemand mit einem ‚Später!‘ verabschiedete – kurz, schroff, wegwerfend, als könnte er nur mit Mühe verbergen, wie wenig ihm daran lag, den anderen je wieder zu sehen oder zu sprechen. Es ist das erste, was mir einfällt, wenn ich an ihn denke, und ich habe es bis heute im Ohr: ‚Später!'“

Aciman, André [2018]: Call Me By Your Name. Ruf mich bei deinem Namen. München: dtv. S. 9.

Sonnenmilch und Strohhut

Wie viel Zeit bleibt für das Später, wenn man nur sechs Wochen für die erste Liebe hat und nicht weiß, ob die Gefühle erwidert werden? Ein tragischer Aspekt dieses Buches liegt darin, wie viel Zeit Elio und Oliver mit „beiläufigem Geplauder und Nichtigkeiten“ verschwenden, weil sie einander nicht sicher sein können.

Wenn ich vormittags an meinem runden Holztisch saß und Transkriptionen ausarbeitete, dachte ich nicht an Freundschaft oder sonst etwas, es genügte mir, den Kopf zu heben und ihn dort liegen zu sehen – Sonnenmilch, Strohhut, rote Badehose, Limonade. Den Kopf zu heben und dich zu sehen, Oliver. Denn bald genug wird der Tag kommen, an dem ich den Kopf hebe, und du wirst nicht mehr da sein.“

Aciman, André [2018]: Call Me By Your Name. Ruf mich bei deinem Namen. München: dtv. S. 41.

Besonders verunsichert den jungen Elio, wie leicht der undurchschaubare Oliver alle Menschen um den Finger wickelt und Kontakte zu den Bewohnern der Stadt knüpft. Ihn packt die Eifersucht, wenn Oliver unterwegs ist. Er versucht, es ihm heimzuzahlen und benutzt seine Freundin Marzia, indem er eine Liebelei mit ihr beginnt. Als tragische Figur wird sie aufgerieben zwischen all den unausgesprochenen Gefühlen.

Ein ausführliches Gespräch über den Roman haben Stefan Grunwald und ich in der Reihe „Que(e)rgelesen“ geführt.

„Wenn die Flamme brennt, lösche sie nicht“

Der Roman ergründet mit größter Sensibilität das Gefühlsuniversum, in das sich ein Mensch angesichts der ersten Liebe stürzt – auch wenn im Buch nicht einmal von Liebe gesprochen wird. Elio, der über alles detailliert nachdenkt, weiß genau, was er will. Er ist bereit, sich überfordern zu lassen und den Preis für diese Empfindungen zu bezahlen. Eine bewegende Szene ist deshalb das Gespräch Elios mit seinem Vater, der ihm einen Ratschlag gibt, wie man den Tribut für die Liebe entrichten sollte.

Ihr hattet eine wunderbare Freundschaft. Vielleicht mehr als Freundschaft. Und ich beneide dich. Die meisten Eltern würden hoffen, dass es vorübergeht, oder beten, dass ihre Söhne möglichst bald wieder festen Boden unter den Füßen bekommen. Aber ich denke da anders. Wenn der Schmerz kommt, pflege ihn, und wenn eine Flamme brennt, lösche sie nicht, sei nicht brutal zu ihr. Entzug kann schrecklich sein, wenn er uns nachts wachhält, und zu erleben, dass andere uns schneller vergessen, als uns lieb sein kann, ist nicht besser. Wir reißen so viel mit Stumpf und Stiel aus unserer Seele, um nur ja ganz schnell wieder gesund zu werden, dass wir bis dreißig bankrott sind und bei jedem Neuanfang weniger zu bieten haben. Aber nichts zu fühlen, um nichts fühlen zu müssen – welche Vergeudung!“

Aciman, André [2018]: Call Me By Your Name. Ruf mich bei deinem Namen. München: dtv. S. 257f.

Aciman selbst sagte zu dieser Szene in einem Interview, viele Eltern hätten wohl gesagt, dass der Schmerz vorüber ginge. „No worry. It goes away. It will die, it has to.“ Man reagiere auf den Verlust oft, indem man lerne, die Person zu hassen oder indem man sich jemand anderen suche. „Don’t do any of those things! It may not last forever, but don’t snuff the flame too soon“ lautet hingegen Acimans Rat. „Your parents are there.“

Elios Vater, Elio und Oliver (v.l.n.r.) bei der Bergung einer antiken Statue, Bild aus dem Film „Call Me By Your Name“ , © SONY Pictures Entertainment 2019.

Das San-Clemente-Syndrom

Man erkennt leicht, wie wertvoll solche Gespräche für junge Erwachsene in Elios Lage sein können. Sie müssen die Widersprüche ihres Lebens in einer sich herausbildenden Identität zu vereinen lernen, wie Elio versucht, Joseph Haydns Streichquartett „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ für Klavier umzuschreiben. Aciman erklärt dazu: „He’s trying to take all these four instruments and make them into one. And this is his project and I assume that’s a project that we all have.“ Aber vielleicht werden wir herausfinden, so Aciman, dass diese verschiedenen Teile unserer Identität sich niemals vereinen lassen, dass sie nicht einmal miteinander sprechen können. „And that’s what I call the San-Clemente-syndrome.“ Aber was kann Verschiedenheiten am besten vereinen als die Liebe?

Und deshalb war schließlich ich es und nicht er, der nicht einmal, sondern immer wieder hervorstieß: Nicht aufhören, du bringst mich sonst um!, denn damit konnte ich nun den Kreis zwischen Traum und Wunschvorstellung, zwischen dem Ich und dem Er schließen, die ersehnten Worte, die aus seinem Mund in meinen Mund kamen, wieder in seinen zurückkehren lassen, von Mund zu Mund tauschen, und in diesem Augenblick habe ich wohl angefangen, obszöne Ausdrücke zu benutzen, die er mir nachsprach, leise zuerst, bis er sagte: ‚Ruf mich bei deinem Namen, dann ruf ich dich bei meinem‘, was ich noch nie im Leben getan hatte und was mich, sobald ich meinen Namen so aussprach, als wäre es der seine, in ein Reich versetzte, das ich nie zuvor und nie danach mit irgendeinem anderen Menschen geteilt habe.“

Aciman, André [2018]: Call Me By Your Name. Ruf mich bei deinem Namen. München: dtv. S. 159.

„Everything about me is a mess!“

Das Vereinen von Widersprüchen ist ein Lebensthema Acimans. Er wurde 1951 in Alexandria, Ägypten, geboren. Seine Familie wanderte 1965 aus, zuerst nach Italien, dann in die USA. Er ist italienischer Staatsbürger gewesen, heute jüdischer US-Amerikaner, gleichzeitig evangelisch, da sein Vater aus politischen Gründen konvertierte. „Everything in my life has been chaotic and undefined.“ Seine Muttersprachen sind Italienisch und Französisch, er schreibt jedoch auf Englisch. Derzeit ist er Professor an der City University of New York, wo er u.a. zu Marcel Proust und zur französischen Literatur des 17. Jahrhunderts forscht.

„I don’t know where I belong. Everything about me is a mess and it’s all conflicted.“ All das versuchte Aciman auszudrücken, als er „Call Me By Your Name“ geschrieben hat. Das Uneindeutige, um das es ihm geht, ist auch der Grund, warum es zwei männliche Protagonisten sein mussten. In dieser Konstellation ist nicht sicher, ob die Zuneigung überhaupt eine Chance auf Gegenseitigkeit hat. Bei einer Frau und einem Mann hätte eine heteronormative Erwartungshaltung schon eher für vermeintliche Klarheit gesorgt. Dazu passt auch, dass Aciman ursprünglich plante, die Gefühle unausgesprochen und die Geschichte allein in Elios Kopf spielen zu lassen.

„Wir sehen uns!“

Der Roman erschien 2007 auf Englisch. Zehn Jahre später wurde er verfilmt mit Timothée Chalamet und Armie Hammer in den Hauptrollen. Nicht „Später!“, sondern „Wir sehen uns!“, sagt Oliver in der deutschen Synchronisation. Über 70 Filmpreise erhielt die Produktion, u.a. auch den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Während sich die Verfilmung auf die erste Begegnung Elios und Olivers im Sommer 1983 konzentriert, ordnet der Roman die Beziehung der beiden in ihre weiteren Lebenswege ein. Geht die erste Liebe im Lauf der Zeit unter oder ist sie wie Treibholz, das im Gedächtnis für immer oben schwimmt? „I don’t think that anything dies. We forget nothing, we also forgive nothing“, ist Aciman überzeugt.

Trailer zu „Call Me By Your Name“ (2017)

Nach dem großen Erfolg des Romans schrieb André Aciman eine Fortsetzung. „Find me“ soll im Herbst 2019 erscheinen. Darin erzählt er von Elios Vater Samuel, der von Florenz nach Rom reist, um seinen Sohn zu besuchen. Dieser ist ein begabter Pianist geworden und zieht nach Paris, wo er eine folgenreiche Affäre hat. Inzwischen denkt Oliver darüber nach, über den Atlantik zurückzukehren. Die Worte „Wir sehen uns!“ müssen keine Abschiedsfloskel bleiben; sie können auch Hoffnung sein.

André Aciman: „Call Me By Your Name. Ruf mich bei deinem Namen“. dtv Verlagsgesellschaft, 10,90 EUR, ISBN: 978-3423086561.

* Beitrags-/Titelbild „Call Me By Your Name“ © SONY Pictures Entertainment 2019


Autor: Willi Hetze