Mit seiner Erzählung „Hel“ überzeugte Bernd Wagner die Jury für den Dresdner Stadtschreiber 2019. Darin beschreibt er die Reise seines Protagonisten auf die polnische Halbinsel Hel vor dem Kriegsrecht 1981. Am 27. Juni 2019 trat Bernd Wagner das Stipendium mit einer Lesung in der Zentralbibliothek im Dresdner Kulturpalast an.
Ein wodkaverbranntes Herz
Wegen fehlender Fahrkarte aus dem Zug geworfen, schließt sich der Protagonist zwei polnischen Saufkumpanen an. Den einen nennt er Schlappohr, wegen der herunterhängenden Klappen der Wintermütze, der andere heißt Kubjak. Sie reisen zur verbotenen Garnisonsstadt Hel, die wie ein wodkaverbranntes Herz vor ihnen liegt. Lieber Sodom als Hel, scheint sich jemand gedacht zu haben, als er den Namen der Stadt mit schwarzer Teerfarbe änderte. Es soll eine Reise in die Hölle der Vergangenheit werden.
In einem nahegelegenen Wald, auf einer Lichtung, erreichen sie eine Baracke, umgeben von einem Bretterwall und bevölkert von Vögeln. Dort hacken sie die Fische klein, die sie vom Hafen geholt haben. In einem Schuppen wird geräuchert, in den Bunkern unter der Baracke wird Kartoffelwodka in einer Waschmaschine gebrannt. Vom Methanol erblindet, findet sich der Erzähler plötzlich wieder in der Bombardierung Hels, im Hagel von Schrapnellen und Projektilen, zwischen Angehörigen des Volkssturms, dem Wehrmachtsfeldwebel Wisch und dem Funker Schröder. Diese ziellose Reise, von einem Ort zum anderen, von einer Zeit zur anderen, ist ein Hauptmotiv in Wagners Literatur und wohl eine Reaktion auf das Gefühl, eingesperrt gewesen zu sein in der ehemaligen DDR. Als er auf der Karte seines Schulatlasses alle Orte mit Bleistift markiert hatte, zu denen er reisen durfte und an denen er gewesen war, wurde für ihn klar, dass er die Grenze überwinden musste.
Mikado und Kreuzberg
Bernd Wagner wurde 1948 in Wurzen geboren. Er machte eine Lehre zum Rohbaumonteur und studierte in Erfurt Deutsch und Kunsterziehung. Bis 1977 übte er den Lehrerberuf in diesen Fächern aus. Als Mitglied im Schriftstellerverband der DDR unterzeichnete er die Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und war Herausgeber der Literaturzeitschrift Mikado, gemeinsam mit dem Dresdner Stadtschreiber 2017, Uwe Kolbe. 1985 von den DDR-Behörden ausgebürgert, siedelte er nach Westberlin über. Heute wohnt er in Berlin-Kreuzberg. Neben vielen Veröffentlichungen sind vor allem seine Romane „Paradies“ (Ullstein 1997) und „Die Sintflut in Sachsen“ bekannt, 2018 bei Schöffling erschienen.
Die Sensiblen und das Animalische
„Wer sensibel war in der DDR, fand sich auf eine ganz animalische Grundsubstanz zurückgeworfen“, so Wagner. Literarisch interessiert er sich deshalb für Figuren, welche die historischen Entwicklungen auszubaden haben. Aber er wolle sich nicht zum Anwalt der Entrechteten, Erniedrigten und Beleidigten aufschwingen, die oftmals leider keine eigene Sprache hätten. Es sei das Stadtschreiber-Amt in Magdeburg gewesen, das die Hemmschwelle heruntergesetzt habe, in die alte DDR-Umgebung zurückzukehren, auch in das ihm nähere Dresden, das für „den schönen Schein“ stehe wie kaum ein anderer Ort in Deutschland. Er sei sich schon bewusst, wohin er nun gekommen sei, im 30. Jahr nach dem Mauerfall, und spielt dabei wohl auf die Polarisierung der Stadtgesellschaft an. Aber alles, was in Deutschland existiere, gebe es in Dresden eben konkreter und an bestimmte Personen gebunden. Trotzdem habe die Stadt die Chance, zur Normalisierung des Umgangs miteinander beizutragen. Traditionell sind die Stadtschreiber in einer Wohnung in Pieschen untergebracht. Der Stadtteil sei ein Kleinod, antwortet er auf die Frage nach seinem ersten Eindruck, woraufhin ihm Michael Bittner, der Moderator der Lesung, den ironisch-humorvollen Tipp gibt, die berüchtigte Nachtbar Klax zu besuchen.
Höhere Förderung der Stadtschreiberstelle
Michael Bittner war auch Mitglied der Jury, der 2019 auch Uta Hauthal, Karin Großmann, Julia Meyer, Ulrike Schüler, Jörg Scholz-Nollau und Juliane Moschell angehörten. Das Stadtschreiber-Amt umfasst jedoch nicht mehr die Aufgaben eines Stadtchronisten oder Verwalters des Stadtarchivs, sondern ist ein Stipendium, dessen Höhe in diesem Jahr bedeutend angehoben werden konnte, so Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch in ihrer Begrüßungsrede. Es beträgt 1.500 EUR monatlich von Juni bis November, umfasst zahlreiche Annehmlichkeiten, darunter ein Abonnement der Sächsischen Zeitung, eine Monatskarte der Dresdner Verkehrsbetriebe und eine Jahreskarte für die Dresdner Museen. Insofern hat der „Blick von außen auf die Stadt“, den man sich vom Stadtschreiber erhofft, eine deutliche Aufwertung erfahren. Die Ausschreibung für den Stadtschreiber 2020 läuft noch bis zum 31. Juli 2019.
Von Bernd Wagner werden die Dresdner in den kommenden Monaten die Kolumnen in der Sächsischen Zeitung lesen können. Mit Blick auf die polarisierte Stadt und die Frage, wie mit dem Jähzorn mancher Zeitgenossen umgegangen werden kann, gibt er den Rat: Fische hacken oder Holz. Aber vielleicht, so mag man annehmen, hilft es auch, sich das Herz mit Wodka zu verbrennen.
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels wurde Michael Bittner als Vorsitzender der Jury bezeichnet. Dies trifft jedoch nicht zu. Der Artikel wurde entsprechend korrigiert. Den Vorsitz hatte Karin Großmann inne. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.