Manchmal scheut man sich, zu einem bestimmten Roman zu greifen, weil man befürchtet, von der schieren Zahl der Charaktere und deren Verflechtungen erschlagen zu werden. Mit „Stolz und Vorurteil“ habe ich mich getraut und war überrascht, wie flüssig sich das Buch lesen lässt.
Selbst die zum Teil langen Sätze sind verständlich gebaut (Gut, ein paar von ihnen musste ich zweimal lesen). Die Charaktere sind einprägsam gezeichnet. Mr. Bennet und seine strohköpfige Ehefrau, beide Eltern von fünf Töchtern, Mr. Darcy, der stolze, leicht introvertierte, aber reiche junge Mann, die berechnende Charlotte, die sich dem steifen Mr. Collins zur Frau gibt, der flatterhafte Wickham, der sich am liebsten aushalten lässt usw.
Austen kreist um das wohl wichtigste Thema, welches die jungen Damen zu jener Zeit zu beschäftigen hat: Verheiratet zu werden mit einem der eigenen Schönheit und gesellschaftlicher Stellung angemessenen jährlichen Einkommen. Austen schreibt aber nicht nur über selbstbestimmte Frauen in schwierigen Zeiten, sie malt nicht nur ein Sittengemälde der englischen High Society Ende des 18. Jahrhunderts, sie beleuchtet auch die Zwänge und Psychosen jener Schicht und jenes Zeitalters. Das tut sie mit Einfühlungsvermögen, gleichzeitig mit viel Ironie. Die Herren kommen in Summe besser weg, die geistige Überlegenheit einiger Damen gegenüber den Herren kostet Austen jedoch weidlich aus. Und natürlich geht es um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern.
Ein von Austen besonders beeindruckend dargestelltes, in nachfolgender, ähnlicher Literatur häufig entfaltetes Thema: zwei Menschen, die sich gesellschaftlichen Konventionen entledigen, bis sie metaphorisch nackt voreinander stehen, in ihrer Scham und gleichzeitigen Befreiung. Mit solcher Kost kann dieses Buch keine allzu steile Spanungskurve entwickeln – auch wenn mir eingefleischte Austen Fans hier sicherlich widersprechen. (Austen-Einsteiger aus dem Thriller- und Horror-Bereich können natürlich erstmal zu „Stolz und Vorurteil und Zombies“ von Seth Grahame-Smith greifen). Dafür ist Austens Stolz und Vorurteil fantastisch geschrieben. Ein wenig Spannung gibt es dennoch: Eine Entführung und natürlich die Frage, wer am Ende wen abkriegt.
Stolz und Vorurteil gibt es in allen möglichen Ausgaben, beispielsweise beim Anaconda Verlag. Ich empfehle zusätzlich das sehr gute Hörbuch von WDR 5 (in der Mediathek).