Wiedergelesen: „Der Ekel“ von Jean-Paul Sartre

von Kay

Man liest im Tagebuch eines Mannes, eines Historikers, der um die dreißig Jahre alt ist. Antoine Roquentin hat sich an den Atlantik in die Kleinstadt Bouville zurückgezogen, um ein Fachbuch zu schreiben über einen gewissen Marquis de Rollebon. Da stürzt eine handfeste Krise in die Eintönigkeit aus Recherche und Manuskript. Immer öfter ergreift ein undefinierbarer Ekel Besitz von ihm, wodurch ihm sein Leben zunehmend sinnlos und überflüssig erscheint.

Den „Ekel“ kann man von zwei Seiten lesen. Einerseits enthält das Buch die Grundlage einer philosophischen Richtung, des Existenzialismus, der vor allem in den 1960er und 70er Jahren die Lebensweise vieler junger Menschen beeinflusste. Zusammengefasst aus dem „Ekel“ bedeutet Existenzialismus, sich vollständig von Vorurteilen, Sinn- und Moralvorstellungen sowie erklärenden Theorien zu befreien. Dieser Verlust tritt bei der Hauptfigur Roquentin spontan auf und ruft in ihm jenes Gefühl der Angst hervor, des Ekels, der Orientierungslosigkeit, das wohl am ehesten mit einem Déjà-vu zu vergleichen ist. Bald wird Roquentin klar, dass der Ekel nicht aus dem Verlustgefühl rührt, sondern von der Existenz selbst. In seiner nackten, obszönen, absurden Präsenz drängt sich die Existenz der ihn umgebenden Dinge Roquentin geradezu auf, wie ein „schweres Tier“, das sich auf seine Brust setzt. Gleichzeitig schämt sich die Existenz ihrer Nacktheit, was bei Roquentin zu Anflügen des Fremdschämens führt. Die Lösung des Problems schaffte Sartre im Rahmen der Kleidermetapher: Es gilt, die Existenz wieder einzukleiden, aber nicht, um sie zu verbergen und die Ursache des Ekels zu verdecken. Ganz im Gegenteil soll die Existenz herausgestellt, ihre Nacktheit betont, unterstrichen werden. Die Existenz wird erotisiert, nur so kann sie das menschliche Leben vor allem anderen bestimmen. Roquentin entschließt sich für seinen Teil, nach Paris zu gehen und dort Künstler zu werden.

Neben den philosophischen hat der „Ekel“ natürlich auch literarische Qualitäten. Bereits am Anfang des Romans entsteht eine geheimnisvolle Spannung. Beinahe fühlt man sich, als hätte man es mit einem Kriminalroman zu tun. Der Unterschied zu Sherlock Holmes ist, dass Roquentin nicht explizit nach der Ursache des rätselhaften Ekels sucht, sondern zunächst nur beobachtet, wann er auftritt und wann nicht. Letzteres geschieht, wenn er in seinem Lieblingscafé Jazz hört. Das passt Roquentin gut in den Kram. Zwar verbringt er viel Zeit in der Bibliothek, aber lieber treibt er sich in Cafés herum, beispielsweise dem Mably, dem Café des Bretons, oder in der Bar de la Marine. Sartre beschreibt das plätschernde, verantwortungslose Leben Roquentins, der keine Familie zu ernähren oder Geldsorgen hat, mit wohltuender Knappheit und trotzdem anschaulich. Die Darstellung der Wahrnehmungsveränderung Roquentins, die ihn im Zuge des unerklärlichen Ekels heimsucht, ist die klare Meisterleistung des Romans. Sartre gelingt es, die Dinge aus denjenigen Sinnzusammenhängen zu lösen, die der Leser ihnen gemeinhin gibt, jedoch die Bedeutungen zu belassen, die nötig sind, um ihre Sinnentleerung plastisch darzustellen: Roquentins Finger, die wie Würmer fremd auf dem Tisch liegen, Hände, die ein Eigenleben entwickeln und scheinbar unabhängig von ihren Besitzern nach Hüten greifen. Was Sartre nicht gut gelingt, ist die Darstellung der Existenz. Auch die bekannteste Szene des Buches, die Analogie der Kastanienwurzel im Park, ist für mich wenig nachvollziehbar. Da helfen auch die zahllosen gedanklichen Ausrufe Roquentins nichts: „Ich existiere!“.

Der antibourgeoise Impetus, welcher dem „Ekel“ oft zugeschrieben wird, spielt für mich nur im Hintergrund eine Rolle. Stattdessen fokussiert sich Sartre auf die Leiden des Hauptcharakters, wie sich dies für ein literarisches Werk auch gehört. Leider verkommen die Nebencharaktere zur spiegelnden Staffage, bis auf zwei Ausnahmen: den Autodidakten, einen selbsternannten Sozialisten, sowie Roquentins Verflossene, eine ehemalige Schauspielerin mit Namen Anny. Amys Lebensziel es ist, vollkommene Momente zu erleben, eine Philosophie, die ganz im Gegenteil zu Roquentins bis dahin starren Dasein steht. Aber noch einmal: Es geht bei Sartres Existenzialismus nicht darum, das falsche Leben in ein richtiges zu verwandeln, sondern überhaupt zu leben, auch auf die Gefahr hin, Fehler zu machen und sich am Ende gar zu überleben. Für mich ist der „Ekel“ tatsächlich das epochale Werk, für das es allgemein gehalten wird. Heutzutage wird es allerdings kaum noch beachtet, was im Gegensatz zu manch anderen Bibeln der 1968er Studentenbewegung extrem schade ist. Die Freiheitsliebe des Existenzialismus würde heute die eine oder andere Beklemmungen bestimmt verschwinden lassen. Jean-Paul Sartre, „Der Ekel“, ist zu erschwinglichem Preis bei Rowohlt erhältlich.


Autor: Kay Potzger